der Forderung an uns, Vollkommenheit zu erstreben. Das Motiv jedoch muss das
eine sein, das Christus zu all seinem göttlichen Wirken anspornte: Die Gründung
des neuen Reichs und die Erlangung jenes Bewusstseinszustands auf einer
allgemeingültigen und menschlichen Stufenleiter, der aus dem menschlichen Wesen
einen Bürger des Reichs machen wird, der [272] bewusst darin wirkt, sich
freiwillig seinen Gesetzen unterordnet und unerschütterlich nach der Ausbreitung
des Reichs auf Erden strebt. Ein solcher Mensch ist der Bote des Reichs, und
seine selbstgewählte Aufgabe wird sein, das Bewusstsein seiner Mitmenschen zu
heben, so dass sie über sich selbst hinauswachsen können. Das Teilen der
Segnungen des Reichs mit ihnen und ihre Stärkung, wenn sie den schwierigen Pfad
zu dem Tor betreten, das in das Reich führt, wird seine einzig geltende und
unmittelbare Aufgabe. Die Seele, die Kontakt mit ihrem niederen Ausdruck, dem
persönlichen Selbst, genommen hat, treibt dieses Selbst auf den Pfad des
DIENENS. Der Mensch kann dann nicht ruhen, bis er andere auf den WEG und zur
Freiheit der Söhne Gottes geführt hat, die das neue kommende Reich
kennzeichnet.
Die neue Religion ist auf dem Weg; auf sie haben alle früheren Religionen uns
vorbereitet. Sie unterscheidet sich nur darin, dass sie nicht länger durch
Dogmen und Doktrinen unterschieden wird, sondern sie wird wesentlich eine
Haltung des Denkens sein, eine Orientierung zum Leben, zum Menschen und zu Gott.
Sie wird auch ein lebendiges Dienen sein. Selbstsucht und selbstbezogene
Interessen werden endlich ausgeschieden sein, denn das Reich Gottes ist das
Leben des verbundenen Ganzen, empfunden und gewünscht von allen seinen Bürgern,
erarbeitet und zum Ausdruck gebracht von allen, die den WEG gehen. Einweihung
ist nichts weiter als der Vorgang, der in uns die Kräfte und Fähigkeiten dieses
neuen und höheren Reichs entwickelt, welche Kräfte einen Menschen in eine
erweiterte Welt freilassen und darauf gerichtet sind, ihn für das organische
Ganze an Stelle des Teils feinfühlig zu machen. Individualismus und Getrenntsein
werden verschwinden, wenn dieses Reich ins Sein tritt. Das kollektive
Bewusstsein ist sein bedeutendster Ausdruck und seine Haupteigenschaft. Es ist
der nächste, bestimmt und klar angezeigte Schritt auf dem evolutionären PFAD,
und es gibt kein Ausweichen davor. Wir können uns nicht selbst daran hindern,
schliesslich des grösseren Ganzen bewusst zu werden oder tätig teilzunehmen an
seinem vereinten Leben. Es ist jedoch möglich, das Kommen des Reichs zu
beschleunigen. Das heutige Bedürfnis der Welt und die allgemeine Hinwendung der
Menschen zu Ideen scheint anzuzeigen, dass die Zeit gekommen ist für jene
besondere Anstrengung, die das [273] Erscheinen des Reichs und die Offenbarung
dessen herbeiführen wird, das unmittelbare Erfüllung erwartet. Dies ist die
Herausforderung, der sich die christliche Kirche heute gegenübersieht. Es
besteht ein Verlangen nach Vision, Weisheit und jener grossen Toleranz, die das
Göttliche allerorten sehen und den Christus in jedem menschlichen Wesen erkennen
wird.
Sobald wir die Bedeutung des Reichs Gottes erfassen, beginnen wir zu verstehen,
was unter der Kirche Christi gemeint ist, und die Bedeutung jener «Wolke von
Zeugen» (Hebräer XII/1) zu erkennen, von der wir beständig umgeben sind. Das
Reich Gottes ist nicht irgendeine besondere Kirche mit ihren eigenen seltsamen
Doktrinen, ihren besonderen Formulierungen der Wahrheit, ihrer speziellen
Methode der Lenkung auf Erden und der Annäherung an Gott.
Die wahre Kirche ist das Reich Gottes auf Erden, sie hat mit klerikaler
Herrschaft nichts zu tun. Sie setzt sich zusammen aus allen jenen, welche ohne
Rücksicht auf Rasse oder Glaubensbekenntnis vom inneren Licht leben. Sie haben
die Tatsache des mystischen Christus in ihrem Herzen entdeckt und bereiten sich
vor, den Weg der Einweihung zu gehen. Das Reich besteht nicht aus
orthodox-theologisch denkenden Menschen. Seine Bürgerschaft ist umfassender als
dieses und schliesst jedes menschliche Wesen ein, das in weiteren Begriffen
denkt als der individuell, der orthodox, der national und der rassisch
eingestellte Mensch. Die Mitglieder des kommenden Reichs werden in Begriffen der
Menschheit als ein Ganzes denken; so lange sie separativ oder nationalistisch
oder religiös-bigott sind oder auch wirtschaftlich-selbstsüchtig, haben sie
keinen Platz in diesem Reich. Das Wort geistig wird eine viel weitere Bedeutung
erlangen als jene, die es im vergangenen Zeitalter hatte, das nun
glücklicherweise dem Ende zugeht. Alle Lebensformen werden vom Gesichtspunkt
geistiger Erscheinungen aus betrachtet werden, und wir werden nicht länger eine
Tätigkeit als geistig ansehen, eine andere nicht. Die Frage des Beweggrundes,
des Zwecks und der Gruppen-Nützlichkeit wird die geistige Natur einer Tätigkeit
bestimmen. Für das Ganze zu arbeiten, mit der Hilfe für die Gruppe beschäftigt
zu sein, von dem Einen Leben zu wissen, das durch alle Formen pulst, und in dem
Bewusstsein zu schaffen, dass alle Menschen Brüder sind, dies sind die ersten
Eigenschaften, die ein Bürger des Reichs aufweisen [274] muss. Die menschliche
Familie ist individuell selbstbewusst, und dieser Zustand des trennenden
Bewusstseins ist notwendig und nützlich gewesen. Die Zeit ist jedoch gekommen,
da wir grösserer Kontakte, weiterer Zusammenhänge und einer allgemeineren
Einschliesslichkeit gewahr werden.
Wie kann diese Voraussetzung für das Reich Gottes auf Erden geschaffen werden?
Durch das allmähliche und ständige Vermehren der Anzahl derer, die Bürger dieses
Reichs sind, indem sie auf Erden ihr Leben leben und die Eigenschaften und das
Bewusstsein zeigen, die für solche Bürger charakteristisch sind; durch Männer
und Frauen allerorten, die das erweiterte Bewusstsein entwickeln und immer
einschliessender werden. «Jede Überlegung», sagt Dr. Hocking, «die unfehlbar die
Mauern des Selbstes niederreissen kann, eröffnet auf einmal ein unendliches
Welt-Arbeitsfeld. Setze eine zweite zu meiner Einen (One), und ich habe alle
Zahlen gegeben». (Die Bedeutung Gottes in der menschlichen Erfahrung, engl., von
W. E. Hocking, S. 315) ergibt uns den Schlüssel zu dem Vorgang, der in diesem
Werk wesentlicher Einheit durchgeführt werden muss, indem er sagt, dass «... der
wahre Mystiker der ist, der auf der Wirklichkeit beider Welten beharrt und der
es der Zeit und der Bemühung überlässt, ihre Einheit zu verstehen» (a. a. O., S.
399). Das Reich Gottes ist vom praktischen alltäglichen Leben auf der Ebene des
täglichen Geschehens nicht getrennt. Der Bürger des Reichs ist weltbewusst und
gottbewusst. Seine Kontaktlinien sind nach beiden Richtungen klar ausgerichtet,
er ist nicht an sich selbst interessiert, sondern an Gott und an seinen
Mitmenschen, und seine Pflicht gegenüber Gott wirkt sich aus durch die Liebe,
die er empfindet und seiner Umgebung erweist. Er kennt keine Schranken und
erkennt keine Trennungen an. Er lebt als Seele in jedem Aspekt seiner Natur,
durch sein Denken und seine Gefühle und auch auf der physischen Ebene des
Lebens. Er wirkt durch Liebe und in Liebe und wegen der Liebe Gottes.
Ein genaues Studium der Evangeliumsgeschichte und geistige Aufmerksamkeit für
die Worte Christi werden offenbar machen, dass die drei herausragenden
Kennzeichen seines Werks und die drei Hauptlinien seiner Tätigkeit auch die
unsrigen werden sollen. Diese drei sind, wie wir gesehen haben, zuerst das
Erlangen von Vollkommenheit und ihre Darstellung durch die fünf grossen [275]
Ereignisse, die wir die Krisen im Leben Christi nennen, die fünf
Haupt-Einweihungen des Orients und der esoterischen Schulen; zweitens die
Gründung des Reichs, eine Verantwortlichkeit, die auf jedem von uns ruht, denn,
obwohl Christus die Tür ins Reich gewiss öffnete, ruht die übrige Arbeit doch
auf unseren Schultern; drittens das Erlangen von Unsterblichkeit, gegründet auf
der Entwicklung dessen in uns selbst, das dem Wirklichen angehört, das wahren
Wert besitzt und das verdient, die Prüfung der Unsterblichkeit zu bestehen.
Dieser letzte Gedanke rechtfertigt unsere Aufmerksamkeit. Indem wir an seinen
Folgerungen festhalten, finden wir, dass es traurig und zutiefst wahr ist, dass
«... der Mensch, wie er heutzutage existiert, zum Überleben nicht fähig ist. Er
muss sich ändern oder zugrunde gehen. Der Mensch, wie er ist, ist nicht das
letzte Wort der Schöpfung. Wenn er es nicht tut, wenn er es nicht vermag, sich
selbst und seine Einrichtungen an die neue Welt anzupassen, so wird er seinen
Platz einer sensitiveren und weniger groben Gattung abtreten müssen. Wenn der
Mensch das Werk, das von ihm verlangt wird, nicht tun kann, so wird ein anderes
Geschöpf erscheinen, das dies kann». (Das höchste geistige Ideal, engl., von S.
Radhakrishnan, in: The Hibbert Journal, Oktober 1936, S. 33)
Der evolutionäre Plan ist immer derart gewesen. Das göttliche Leben hat immer
für sich Werkzeug nach Werkzeug geschaffen, um sich zu offenbaren, und einem
Reich ist das andere gefolgt. Dieselbe grosse Ausdehnung steht heute unmittelbar
bevor. Der Mensch, das selbstbewusste Wesen, vermag sich wesentlich zu
unterscheiden von den Lebensformen in den anderen Reichen, weil er auf der Woge
des göttlichen Lebens in vollem Bewusstsein vorwärtsschreiten kann. Er kann
teilhaben an der «Freude des Herrn», wenn die erweiterten Bereiche des
Bewusstseins sein eigen werden. Er kann jene Seligkeit kennenlernen, die der
herausragende Zustand der Gottnatur ist. Da braucht es kein menschliches
Versagen zu geben, noch einen endgültigen Bruch im Fortgang der Offenbarung. Da
ist das im Menschen, das ihn befähigt, die Kluft zu überbrücken zwischen dem
Reich, in dem er sich befindet, und dem neuen Reich, das am Horizont auftaucht.
Menschliche Wesen, die Bürger beider Reiche sind des menschlichen und des
geistigen , befinden sich heute wie immer unter uns. Sie bewegen sich frei in
jeder Welt, und Christus selbst gab uns die vollkommene Darstellung jener
Bürgerschaft und sagte uns, dass wir «sogar [276] grössere Dinge» tun könnten,
als er getan hat. Dies ist die herrliche Zukunft, auf die der Mensch heute
ausgerichtet ist und auf die alle Weltereignisse ihn vorbereiten.
Die Vorbereitung auf dieses Reich ist die Aufgabe der Jüngerschaft, und sie
stellt die schwierige Disziplin des fünffachen Pfades der Einweihung dar. Die
Arbeit des Jüngers ist die Gründung des Reichs, und das primäre Kennzeichen
seiner Bürger ist Unsterblichkeit. Sie sind Mitglieder einer TODLOSEN RASSE, und
der letzte Feind, den sie überwinden, ist der Tod. Sie wirken bewusst im Körper
oder ausserhalb und nehmen keine Rücksicht darauf. Sie haben das immerwährende
Leben, weil in ihnen das ist, was nicht sterben kann, weil es von göttlicher Art
ist. Unsterblich zu sein, weil einem die Sünden vergeben sind, scheint kein
angemessener Grund für ein intelligentes Denken. Das ewige Leben zu haben, weil
Christus vor zweitausend Jahren gestorben ist, erweist sich als nicht
zufriedenstellend für den seiner eigenen Verantwortlichkeit und Identität
bewussten Menschen. Ewig zu leben, weil man religiös ist oder gewisse
Glaubensformen angenommen hat, ist ein Grund, der von einem seiner inneren Kraft
und Natur bewussten Menschen zurückgewiesen wird. Seinen Glauben an das
Fortleben auf Tradition oder sogar auf einen angeborenen Sinn für ein
Weiterbestehen zu gründen, scheint ihnen nicht ausreichend. Wir wissen vieles
über die Kraft und Zähigkeit der Selbst-Erhaltung und über das schöpferische
Drängen nach Selbst-Verewigung. Vielleicht werden diese zwei einfach in einem
idealistischen Sinn fortgesetzt, wenn der Mensch der Endgültigkeit
gegenübersteht.
Der Menschheit wohnt jedoch das Empfinden inne, irgendwohin zu gehören, es gibt
eine göttliche Unzufriedenheit, die sicher ihren Grund in irgendeiner
natürlichen Erbschaft hat, die unseren Ursprung gewährleistet. Dieses
Hinausreichen in ein grösseres, volleres Leben ist ebenso eine menschliche
Eigenschaft wie die normale Neigung eines Menschen zu Familienleben und
gesellschaftlichen Verbindungen. Es ist daher ebenso einer Erfüllung fähig wie
jene Neigung, und dafür liefern die Zeitalter Beweise. Persönliche Erlösung ist
nach alledem von geringer Bedeutung, ausser sie ordnet sich ein in ein
allgemeineres und universales Erlöstwerden. Die Bibel verheisst, dass der,
«welcher den Willen Gottes tut, der bleibt [277] in Ewigkeit» (I. Joh. II/17),
und in diesen Worten haben wir den Schlüssel. Es bestand die Neigung, zu denken,
dass durch die Erschaffung des Menschen der Wille Gottes, etwas auszudrücken,
völlig zufriedengestellt sei. Für diesen Glauben gibt es gewiss keinen
wirklichen Grund. Wenn Gott nicht fähig wäre, etwas weit Vollkommeneres
hervorzubringen als die Menschheit, und wenn das Leben, das durch die Naturwelt
sich ergiesst, nicht auf etwas Grösseres, Besseres und Schöneres hinwirkte als
alles, was jetzt hervorgebracht wurde, dann wäre Gott nicht göttlich in dem
Sinn, in dem dieser Begriff gewöhnlich angewendet wird. Wir erwarten von Gott
weit mehr als das Grösse, über alles hinausgehend, was uns jetzt gezeigt
wurde. Wir glauben, dass dies möglich ist. Wir vertrauen fest auf diese
Göttlichkeit und sind sicher, dass sie uns nicht täuscht. Doch die Offenbarung
der letzten Vollkommenheit, wie immer sie auch sein möge (und wir sollten Gott
nicht begrenzen durch irgendeine unserer vorgefassten Ideen), wird im Menschen
die Entfaltung von Kräften erfordern und einen Mechanismus, die ihn befähigen
werden, sie zu erkennen, teilzuhaben an ihren Wundern und ihrem grösseren
Kontaktbereich. Wir selbst müssen uns wandeln, um das Göttliche zum Ausdruck zu
bringen, wie Christus es zum Ausdruck brachte, ehe Gott zu der Offenbarung der
Schönheit des verborgenen Reichs weitergehen kann. Gott braucht die Mitarbeit
des Menschen. Er ruft nach Menschen, um seinen Willen zu tun. Wir haben das als
einen Weg zu unserem eigenen individuellen Wohl angesehen, und das war
vielleicht eine falsche Einstellung. Wir müssen uns erheben und den inneren Plan
voranbringen, indem wir uns selbst zur Vollkommenheit hin ausstatten, damit Gott
«auf die Arbeit seiner Seele schauen und zufrieden damit sein» möge (Jesaja
LIII/11). Wir sind wahrscheinlich Gottes entscheidendes Experiment. Der Keim
göttlichen Lebens ist in uns, aber wir selbst haben etwas dazu zu tun, und die
Zeit ist gekommen, da die Menschheit als Ganzes sich bemühen muss, das göttliche
Leben in der menschlichen Form zu nähren.
Deshalb ist unsere unmittelbare Aufgabe, im Interesse des Reichs, dessen Bürger
unsterblich sind, das zu entfalten, was göttlich ist in uns. Seine Eigenschaften
|
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen